TACHELES | Beitrag vom 24.03.2018
Zur Aktualität von Karl Marx (1)
„Wir haben ein historisches Interesse an Marx, aber kein praktisches mehr“
Jürgen Neffe und Matthias Zimmer im Gespräch mit Marcus Pindur

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In unserer siebenteiligen neuen Reihe treffen Politiker der im Bundestag vertretenen Parteien auf Autorinnen und Autoren von Büchern über Karl Marx. Thema: Was kann uns Marx heute sagen? Den Anfang machen der CDU-Politiker Matthias Zimmer und der Marx-Biograf Jürgen Neffe.

Deutschlandfunk Kultur: Ich begrüße Sie zu unserem heutigen Tacheles-Gespräch. Die Frage, was Marx uns heute sagen kann und wie wir rückblickend sein Werk bewerten, ist in den letzten Jahrzehnten, besonders nach dem Zusammenbruch des Sowjet-Kommunismus, ein wenig aus der Mode gekommen – aber eben nie ganz.

Immer wieder haben insbesondere Intellektuelle versucht, Marx wiederzubeleben, wieder zu aktualisieren. Herr Neffe, Sie als der Autor dieses Buches, was denken Sie denn, was die Aktualität von Marx ausmacht?

Jürgen Neffe: Darüber können wir jetzt ganz lange sprechen. Aber vielleicht sollte man mal bei der, wie ich finde, ganz zentralen Botschaft anfangen. Marx sagt, dass wir uns mit dem Kapitalismus auf eine Art Kontrollverlust eingelassen haben. Er macht das sehr poetisch, spricht auch vom Hexenmeister, der die Gewalten, die er hervorrief, nicht mehr beherrscht. Er nimmt das ein bisschen aus der Religionskritik, wo es dann bei den Jung-Hegelianern in seiner Studentenzeit hieß: Menschen haben mit Gott etwas geschaffen und sich so weit von ihm entfremdet, dass dieses von Menschen geschaffen Geschöpf sie beherrscht. Das überträgt er als Motiv auf den Kapitalismus.

Und jetzt die Aktualität: Wir sind gerade im Zuge von Industrie 4.0, Big Data und neuer Digitalwirtschaft, digitaler Revolution, all die Stichworte fallen immer, noch einmal in einem solchen marxschen Moment, dass wir ein ganzes Stück weiter die Kontrolle aus der Hand geben.

Wenn man die Zeiten vergleicht, damals konnte ein Dichter wie Herwegh noch die berühmten Zeilen dichten: "Alle Räder stehen still, wenn ein starker Arm es will." Das hieß, man konnte eine Fabrik anhalten, um seine Interessen durchzusetzen. Bei dem jetzt anstehenden Kontrollverlust, übrigens genauso, wie Marx es analysiert, vom Kapital getrieben, Google und Facebook sind ja Firmen, die dazu da sind, Geld zu verdienen an erster Stelle und nicht, um zu beglücken, bei diesem erneuten Kontrollverlust bin ich mir nicht mehr sicher, ob wir das ganze Ding überhaupt noch anhalten und unter unsere Kontrolle heben können.

Das gilt natürlich auch für das, was 2007, 2008 so richtig augenfällig geworden ist, für die Kontrolle der Finanzwirtschaft mit ihrem lichtschnellen Handeln usw. Auch da drohen wir ja immer mehr die Kontrolle zu verlieren, allein in dem einfachen Sinne, dass Politiker oft diese ganzen Dinge nicht mehr verstehen können.

Deutschlandfunk Kultur: Das ist sicherlich schwierig, abgesehen davon, dass die Produkte uns ja in irgendeiner Form glücklich machen müssen, wenn man damit Geld verdienen will. – Das nur mal auch so dahin gestellt.

Es stellt sich die Frage der Kontrolle für die Politik natürlich immer wieder. Da kommt immer ganz besonders von linker Seite eben die Kritik, der Staat verstehe sich lediglich nur noch als Reparaturbetrieb des Kapitalismus, lasse ihm aber andererseits freie Bahn.

Herr Zimmer, was denken Sie als Politiker darüber. Wie weit haben Sie tatsächlich noch Gestaltungsmacht in den Händen?

Matthias Zimmer: Ich glaube, zunächst muss man mal feststellen, dass Marx, als er im 19. Jahrhundert geschrieben hat, ja unter völlig anderen Bedingungen geschrieben hat. Wir haben es dort mit einem Kapitalismus zu tun, der in den schlimmsten Auswüchsen, - Engels hat das ja beschrieben, "Lage der arbeitenden Klassen in England" -, der in den schlimmsten Ausprägungen sich dort ausgetobt hat, wo es im Grunde genommen damals auch State of the Art war, den Staat eigentlich dort weitgehend herauszuhalten. Das ist die liberale Ideologie gewesen, gegen die sich ja nicht nur Bismarck dann später gerichtet hat, sondern auch die katholische Soziallehre, die Sozialdemokratie dann später auch und vieles andere.

Insofern glaube ich, dass man den Kapitalismus des 21. Jahrhunderts mit dem Kapitalismus des 19. Jahrhunderts nicht vergleichen kann. Wir haben es sehr viel stärker mit staatlicher Intervention zu tun, mit staatlicher Ordnungspolitik, auch mit völlig anderen Konzepten, wie man damit umgeht. Ich selbst komme aus der katholischen Soziallehre heraus. Dort ist eines der Hauptrezepte das der Subsidiarität, das heißt, der Ertüchtigung auch intermediärer Strukturen und natürlich auch einer sehr viel stärkeren staatlichen Kontrolle, als das im 19. Jahrhundert der Fall gewesen ist.

Das bedeutet jetzt nicht, dass der Kapitalismus eine Ewigkeitsgarantie hat. Wenn es eines von Marx zu lernen gibt, dann doch dieses: Der Kapitalismus ist irgendwann mal entstanden und er wird irgendwann mal als eine historische Formation auch beendet sein.

Deutschlandfunk Kultur: Ist das tatsächlich so? Das fragen wir uns alle immer wieder, weil, der Kollaps des Kapitalismus hat selbst in den 30er-Jahren nicht stattgefunden in der großen, großen Depression. Wir haben jetzt eine große Krise, die größte Krise seit siebzig Jahren wieder gesehen, 2008/ 2009, die Finanz- und Wirtschaftskrise. Und da hat sich herausgestellt, der Kapitalismus ist lernfähig.

Jürgen Neffe: Das ist vielleicht auch Marx größtes Manko, größter Fehler, dass er die Lernfähigkeit des Kapitalismus – aus seiner Zeit verständlich – nicht verstanden, nicht erkannt hat. Wenn man sieht, wie sich der Kapitalismus sich seit Marx verändert hat, ich habe mal gesagt, dann haben wir ja fast den Sozialismus light, wenn man Staatsquoten von vierzig Prozent anguckt, das heißt, all dessen, was wir gemeinsam erwirtschaften, geht durch die Hände des Staates, dann ist, glaube ich, die Frage auch nach der Einflussmöglichkeit der Gemeinschaft, der Allgemeinheit des Staates, der Politiker zu vierzig Prozent zumindest beantwortet. Es geht ja fast alles in Sozialtransfers oder der große Teil.

Wäre das nicht passiert - ich glaube, da sind wir uns einig -, gäbe es den Kapitalismus heute schon so nicht mehr. Und wir reden nicht nur von Deutschland oder Schweden, sondern das Gleiche findet ja auch in erzkapitalistischen Ländern wie Großbritannien und USA statt. Auch dort gibt es ähnliche Staatsquoten, wenn ich das richtig gelesen habe, wie bei uns.

Deutschlandfunk Kultur: Ist der immens politische Marx also in diesem Sinne unpolitisch gewesen, weil er die Rolle von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechen auch tatsächlich einfach unterschätzt hat, die sie später einmal spielen würden?

Jürgen Neffe: Sie sollten vielleicht noch ergänzen: der Nation. Marx war ja so ein Internationalist. Und was heute so passiert, diese doch ganz klare Rückkehr des Nationalismus oder nationalistischer Ziele, das hat der sich nicht vorgestellt. Der hat gedacht, das geht immer weiter so auf eine Weltgesellschaft zu und auf eine internationale Einigung. Auch dieses ist so ein blinder Fleck bei Marx, würde ich sagen, weil er glaubte, das geht in die Richtung, wie er die angestoßen hat mit der Internationale, immer weiter.

Deutschlandfunk Kultur: Der Kapitalismus war natürlich ein anderer als der im 21. Jahrhundert. Macht das nicht aber gerade den Unterschied aus?

Matthias Zimmer: Selbstverständlich beruht der Kapitalismus des 19. auf den gleichen Wirkmechanismen wie der des 21. Jahrhunderts. Aber die sozialen Konsequenzen sind ja ganz andere. Das hat natürlich mit der Staatseinwirkung zu tun und mit der Staatstätigkeit. Es hat damit zu tun, dass es ein befremdliches Überleben dieser ganzen Strukturen, dieses ganzen Systems gibt, das sich gewissermaßen von Krise zu Krise fort hangelt, ohne erkennbar schwächer zu werden.

Wir haben es ja in den letzten Jahren immer wieder mit Voraussagen zu tun, die das unmittelbare Absterben des Kapitalismus zum Gegenstand haben. Ich erinnere nur an das Buch von Paul Mason über den Postkapitalismus, der der Meinung ist, dass mit dem Internet, der Verknüpfung mit dem Internet der Dinge und vielen anderen neuen Entwicklungen das Ende des Kapitalismus unmittelbar bevorstehe. – Ich bin bei so was eigentlich eher sehr skeptisch.

Was ich mir aber wünschen würde, und da will ich gerne etwas aufgreifen, was Herr Neffe eben gesagt hat: Was mich bei Marx eigentlich immer ein klein wenig gestört hat, ist, dass es einen erkennbaren Bruch gibt, Sie schreiben das in Ihrem Buch nicht, also, Sie nehmen den Bruch nicht so wahr, einen erkennbaren Bruch gibt zwischen dem frühen Marx, der sehr philosophisch ist, bei dem sehr stark wertgeleitete Menschenbilder eine Rolle spielen, das Bild von der Entfremdung des Menschen, von der vielfachen Entfremdung des Menschen von seinem Wesen, von seiner Natur und vielen anderen Dingen auch, dass das aber in der ökonomischen Theorie eigentlich aus meiner Sicht kaum Widerhall findet.

Damit macht Marx aus meiner Sicht eigentlich einen Schritt zurück hinter Adam Smith. Bei Smith war nämlich Wirtschaft noch in einen größeren Zusammenhang normativer Gesellschaftspolitik eingebunden. Das vermisse ich bei Marx so ein wenig und sehe dann Marx eher sozusagen als einen Vorläufer einer bestimmten Form der Wirtschaftsanalyse, über die wir uns heute ja auch sehr häufig ärgern und sagen, wir brauchen wieder so was wie eine normativ fundierte Wirtschaftspolitik, die sich auch nicht entblödet, mal über das Gemeinwohl zu reden, der die Wirtschaft auch verpflichtet ist.

Vielleicht – wir wollen ja mal ein bisschen provozieren – liegt eine dieser Wurzeln des Verhängnisses der Nationalökonomie und der nationalökonomischen Analyse tatsächlich bei Marx, indem er nämlich wirtschaftliche Prozesse sui generis untersucht und sie nicht in die gesellschaftlichen Gesamtstrukturen einbindet.

Jürgen Neffe: Er würde natürlich das Gegenteil sagen. Ich meine, der Punkt, ob der Bruch zwischen frühem und späten Marx besteht, ist ja äußerst umstritten bis heute. Ich sehe da eher, ich habe natürlich ein Jahr lang nichts gemacht, als diese Marx-Schriften sehr eingehend…

Deutschlandfunk Kultur: Sie schreiben das aber auch in Ihrem Buch. Sie weisen darauf hin, dass die Epigonen, also der Ostblock-Marxismus, sich immer versucht haben, von den frühen Schriften zu distanzieren.

Jürgen Neffe: Genau. Die haben ja den Bruch betont und haben gesagt, na ja, Jugendschriften sind Jugendsünden und die müsse man nicht weiter ernst nehmen. Ich glaube, wir im Westen haben gerade die Jugend- oder Frühschriften sehr ernst genommen. Die haben ja auch die ganze Frankfurter Schule, wenn man so will, mit begründet.

Es gibt eine Kontinuität in seinem Schaffen und natürlich einen Bruch, der biografisch begründet ist. Ich bin ja Biograf und versuche die Dinge auch insofern zu verstehen. Der fulminante Schlusspunkt unter sein Frühwerk mit dem Manifest, er findet ja dann im Scheitern dieser Revolution, die eigentlich vom ersten Tag an gescheitert war, die März-Revolution in Deutschland und auch in Europa findet da ihr Ende. Marx muss nach London. Marx verarmt. Er hat die Revolution noch mit einer eigenen Zeitung, der Neuen Rheinischen Zeitung, begleitet und in London hört er auch auf, Politiker zu sein. Er zieht sich aus allem zurück, löst den Kommunistischen Bund noch auf und fängt dann wieder an, Wissenschaftler zu sein.

Und dann greift er nochmal viel tiefer in die Kiste der Theorien. Vorher hat er sich auch schon mit Smith usw. beschäftigt. Und jetzt versucht er aber auch, politisch-ökonomische Schriften zu verstehen und aufzunehmen.

Deutschlandfunk Kultur: Aber nochmal zurück zu dieser Ausgangsfrage. Ich meine, Herr Zimmer ist ja nicht der erste, der sagt, man kann die Welt nicht nur aus der Ökonomie erklären. Das ist ja der Vorwurf, der Marx und auch seinen Epigonen gemacht wird. – Ist das ökonomistisch? Ist das deterministisch letztlich? Lässt er das Schicksal, die Wahlfreiheit des Menschen nicht viel zu weit außen vor?

Jürgen Neffe: Positivistisch können Sie auch noch sagen: Marx ist, wie ich finde, vielleicht habe ich das auch mehr rausgehoben als andere das so wollen oder können, vom naturwissenschaftlichen Gedankengut seiner Zeit geprägt, dem Traum, die Formeln zu finden. Übrigens, das nervt mich auch an Marx' Werk immer wieder, wenn er versucht, ins mathematische Formelhafte zu gehen, wo man dann denkt, auch wenn die DDR es anders gesehen hat, ein großer Mathematiker war der nicht und ein großer Ökonom in dem Sinne, wie wir das heute verstehen.

Wenn man das sieht, dass er versucht hat, wie so ein Organismus den Kapitalismus zu beschreiben, dann kommt man ganz schnell zu Blutfluss und Zirkulation, Druck. Übrigens, das Bild, was Sie gebraucht haben, wenn wir das jetzt aus meiner biologischen, biochemischen Sicht betrachten, der Kapitalismus…

Deutschlandfunk Kultur: Sie sind studierter Biologe, muss man dazu sagen.

Jürgen Neffe: Ja, ich habe in Bio-Chemie geforscht. Vielleicht ist es auch so beim Kapitalismus: Was dich nicht tötet, härtet dich ab. Das sagen wir bei Kinderkrankheiten, Viren. Die töten in der Regel nicht, aber wenn man die einmal alle durchlaufen hat, dann ist man im Leben sehr viel gefeiter. Ich glaube, der Kapitalismus funktioniert nach einem ähnlichen Prinzip.

Insofern laufen wir so ein bisschen auf der Schiene von Marx mit. Aber wenn man dann das teilweise harte, durch literarische Zitate schon aufgehübschte Werk liest, verstehe ich den Einwand schon sehr gut. Nicht alles ist Ökonomie. Das wissen wir auch. Zum Beispiel findet man, was wir jetzt in diesen Jahren gerade wieder so erleben, das Wiedererstarken der Religion. Das ist, glaube ich, nicht sehr ökonomisch geprägt, gibt's auch ökonomische Beweggründe, das findet aber gar nicht statt, um ein Beispiel zu nennen.

Deutschlandfunk Kultur: 200 Jahre nach Karl Marx' Geburt, was kann Marx uns heute noch sagen. – Herr Neffe, Sie beschrieben Marx als einen sehr vielschichtigen Denker, den man in Ihrem Buch auch sehr differenziert geschildert bekommt. Aber es bleibt immer auch ein Gschmäckle zurück, nämlich dass Marx sich zumindest als später Marx, selber ausstattet mit einer hohen Prophezeiungsgabe oder einem hohen Prophezeiungspotenzial, andererseits seine Prophezeiungen aber so vage und so schwammig sind und so unbestimmt, dass sie doch die Frage nach der Wissenschaftlichkeit von Marx' Werk dann irgendwann nahelegen.

Der kritische Rationalist Karl Popper hielt Marx wegen seiner Vagheit und Vieldeutigkeit für unwissenschaftlich.

Jürgen Neffe: Ich würde den Marx nicht als unwissenschaftlich bezeichnen. Für mich ist die Überschrift über seinem Leben Wissenschaftler. Denn er war Soziologe, Historiker, Ökonom, Philosoph, in der Ausbildung Jurist usw. Die Überschrift ist schon Wissenschaftler. Ich glaube, eins können wir ihm zugestehen. Er hat redlich nach der Wahrheit gesucht. Er hat das natürlich unter politischen Auspizien getan.

Wir dürfen nicht vergessen, dass gerade "Das Kapital" in einer Zeit entstanden ist, als Marx so eine Art Sprecher der Internationale war und auch liefern musste. Deshalb stehen ja auch so heroische Sätze wie "die Ausbeuter werden ausgebeutet, das alles wird mal ein Ende finden" darin. Es ist ja auch eine politische Schrift, machen wir uns nichts vor. Aber unwissenschaftlich in dem Sinne deshalb nicht, also, Prophezeiung hatten Sie am Anfang gesagt. Marx hat immer gesagt, er will kein Prophet sein, aber für mich ist er ein Theoretiker, dessen Theorie irgendwie wie bei Einstein Vorhersagen erlaubt. Er macht ja gar nicht großes…

Deutschlandfunk Kultur: Das würde Popper bestreiten. Das hat er ausdrücklich bestritten in seinen Schriften, dass das so möglich ist wie bei Einstein zum Beispiel.

Lassen Sie uns da nicht zu tief einsteigen. Herr Zimmer wollte gerade noch was…

Matthias Zimmer: Eins will ich dann doch noch dazu sagen. Wir müssen uns ja das 19. Jahrhundert als ein Jahrhundert vorstellen, das völlig durchtränkt war von einem unglaublichen Fortschrittsoptimismus, also, jetzt nicht nur Hegel mit seiner völlig verkopften Philosophie, sondern auch das, was aus der französischen Philosophie zu uns gekommen ist, wo man im Grunde genommen gesagt hat, die Geschichte der Menschheit ist jetzt nicht ein Abfall von Gott, sondern sie ist etwas, wo sich die Menschen immer weiter vervollkommnen. Wenn ich an Turgot und Condorcet denke, die ganz Ähnliches da formuliert haben.

Und das ist ja auch ganz deutlich gewesen für die Zeitgenossen damals, dass sie sagen konnten, Mensch, noch vor hundert Jahren gab's dieses nicht, gab's jenes nicht. Wir erleben das ja tatsächlich, dass wir hier einen Fortschritt haben. Und wir erleben das auch ganz plastisch, wenn wir die weniger zivilisierten Völker uns angucken, bei denen das noch überhaupt nicht der Fall ist. Das ist wie ein Blick in unsere eigene Vergangenheit.

Dass vor so einem Hintergrund Marx dann auch eine Fortschrittsidee thematisiert, die in der damaligen Politik, in der Philosophie im Grunde genommen ja völlig nahegelegen hat, ist, glaube ich, völlig verständlich. Und das, was Popper dann macht und später andere nach dem Zivilisationsbruch des Ersten und vor allen Dingen des Zweiten Weltkrieges, wo kein Mensch mehr in der Lage ist, von Fortschritt zu sprechen, ohne dann auch nur zu sagen, na ja, es kann auch mal andersrum gehen, und diese Fortschrittsgewissheit da völlig zerstört ist, das verstellt uns, glaube ich, ein bisschen den Blick auf Marx, wie im 19. Jahrhundert über die historischen Entwicklungen, über die geschichtlichen Möglichkeiten gedacht worden ist.

Jürgen Neffe: Übrigens interessant, dass Sie den Zweiten Weltkrieg erwähnen. Marx hat ja an mehreren Stellen angedeutet, auch vorhergesagt aus einem Grund, der auch mit dem Kapitalismus zu tun hat. Das ist gar nicht kritisch gemeint, sondern einfach aus dem System. – Erstmals können Sie Waffen und Munition im industriellen Maßstab in unendlicher Zahl herstellen. Das haben wir dann Verdun gesehen. Die konnten sich jahrelang Granaten um die Ohren hauen. Das gab's Anfang des 19. Jahrhunderts nicht. Da waren die handgefertigten und traten sich Armeen gegenüber, diese Nachschubfrage hat ja durch die Industrialisierung, Eisenbahn und alles immer hinbringen können und Telegrafie und Funk und was da alles plötzlich funktionierte, neue Dimension angenommen. Und der hat das in den 1870er-Jahren schon angedeutet. Sowas muss dann mal irgendwann rauskommen, wenn es zum Krieg kommt.

Deutschlandfunk Kultur: Das ist das eine. Jüngere Historiker, die gerade publiziert haben vor zwei Jahren, "Die Schlafwandler" zum Beispiel, argumentieren, dass die treibende Kraft der Nationalismus gewesen sei für den Ersten Weltkrieg und nicht der Kapitalismus.

Jürgen Neffe: Nein, nicht die treibenden Kraft, sondern die Art und Weise, wie plötzlich Krieg geführt wurde. Dieses endlose Abschlachten ist ja nur möglich, wenn Sie endlos Munition verballern können, das ist nun mal leider, und Kanonen nachschieben können. Das meinte der Marx, nicht als treibende Kraft, aber natürlich auch als treibende Kraft insofern, dass im Ersten und im Zweiten Weltkrieg bestimmte Leute viel Geld verdient haben. Da sind wir uns auch einig.

Deutschlandfunk Kultur: Kommen wir mal zu dem, was viele Nichtmarxisten als den größten Kritikpunkt bei Marx sehen, nämlich diese vage gehaltene Gewaltfrage.

Wenn man von der Geschichte spricht als einer Abfolge von Klassenkämpfen, ist dann Gewalt nicht geradezu notwendig, um eben diese Welt aus dem kapitalistischen Jammertal führen zu können?

Jürgen Neffe: Also, wenn ich antworten darf als erster, da gibt es mehrere Formen von Gewalt. Da müssen wir uns auch einig sein. Es gibt ja die wirtschaftliche Gewalt. Die hat der Marx ja noch ganz klar erlebt, also, wirtschaftliche, soziale Gewalt dieser massiven Ausbeutung. Dann gibt es natürlich die Gewalt, die eine bestimmte stark gewordene Gruppe, bei Marx die Proletarier, heute würden wir vielleicht sagen, Lohnarbeiter oder Lohnabhängige, Leute, die von ihrer Hände und Hirne Arbeit leben müssen. Wenn die eine große Mehrheit erringen, Marx träumt übrigens auch immer noch vom demokratischen Weg, die können das System ändern und eine vorübergehende Diktatur des Proletariats schaffen.

Was die direkte Gewalt angeht, ist Marx ein großer Warner. Da muss man das Werk studieren. Sie werden mir jetzt nicht viele Zitate bringen können, außer aus der 48er-, 49er-Zeit, wo er gesagt hat, gegen euren Terror hilft nur Terror. Der ist kein Gewaltverherrlicher, überhaupt nicht, sondern sagt an vielen Stellen, hält auch Reden vor den Arbeitern, macht es nicht, macht jetzt keinen Aufstand, ihr geht nur unter und werft euch selbst fünfzig Jahre zurück.

Engels, sein Freund, war ja so ein bisschen militaristischer ausgerichtet. Der hätte einfach gesagt: Wenn ihr nicht die Waffengewalt habt, um denen entgegenzutreten, hat das alles keinen Sinn. Und vielleicht auch Marx, noch klüger, hat gesagt: Wenn ihr keinen Plan B habt, einfach alles kaputt hauen, das ist so in meiner Diktion seine Aussage, einfach alles kaputt hauen, mal gucken, was dann kommt, ist auch nicht Marx. Können Sie mir da Recht geben?

Matthias Zimmer: Ich glaube, es gibt eine gewisse Ambivalenz im Werk von Marx, was sich ja auch in der Wirkungsgeschichte niederschlägt, dass es auf der einen Seite diejenigen gegeben hat, die der Meinung waren, der Sozialismus komme von ganz alleine, der entstehe gewissermaßen naturwüchsig aus der alten kapitalistischen Ordnung. Man brauche sich bloß zurückzulehnen und dann einfach drauf zu warten, dass einem die sozialistische Pflaumen in den Schoß fallen.

Und es gab andere, die sich natürlich auch auf Marx berufen konnten, die sozusagen die Gewaltsamkeit dieses Hervorbringens der neuen Ordnung stärker betont haben. Ich glaube, das liegt so ein bisschen daran, dass Marx sich selber nie so ganz im Klaren war: Bin ich jetzt Wissenschaftler, der diese Dinge analysiert? Oder bin ich Politiker, der aktiv daran mitwirken will, eine neue Ordnung hervorzubringen?

Dieses Spannungsverhältnis, das beschreiben Sie ja auch, durchzieht das ganze Werk von Marx.

Deutschlandfunk Kultur: Und das ist ganz offensichtlich. Herr Neffe, Sie nehmen ja auch Marx an vielen Stellen gegen das in Schutz, was wir später dann den "real existierenden Sozialismus" nannten.

Jürgen Neffe: Ich glaube, zu Recht.

Deutschlandfunk Kultur: Das kann sein, aber Sie sagen ja auch, und das ist ja auch ersichtlich aus dem Werk von Marx, besonders auch im Frühwerk von Marx, dass die Freiheit für ihn einen hohen Stellenwert hat und er die Befreiung des Individuums als sozusagen schlüssiges Ende der Geschichte betrachten würde. Aber wenn ihm die Freiheit so wichtig war, wie konnte Marx dann von seinen Epigonen so missverstanden und so missbraucht werden?

Jürgen Neffe: Ich meine, das ist eine historische Frage, die man jetzt…

Deutschlandfunk Kultur: Das leuchtet mir nicht ein.

Jürgen Neffe: Vor hundert Jahren gab's eine russische Revolution. Und die war, sagen wir mal, durch Zufall der Geschichte geschuldet. Ein ganz kleines Zeitfenster haben bestimmte Leute genutzt. Wir haben ihnen auch noch geholfen mit einem verplombten Zug, wie es heißt. Ich habe viel über diese Zeit jetzt auch gelesen. Vielleicht sechs oder zwölf Wochen später wäre das gar nicht mehr möglich gewesen. Die haben absolut im nicht marxschen Sinne die Revolution in einem Land ausgerufen, wo es ein nennenswertes Proletariat gar nicht gab. Man hat die Bauern dazugezogen, das ist ja auch ein Muster der Französischen Revolution, um dann den Bauern wenige Jahre später die lange Nase zu zeigen, denen ihr Land wegzunehmen und zu sagen, wir brauchen euch in den Fabriken.

Also, diese Revolution war ja faktisch ein Betrug an Marx' Ideen. Aber einen Punkt sollten wir vielleicht bei der Gewalt nochmal erwähnen. Es ging ja bei der russischen Revolution auch um die Eigentumsfrage. Und es gibt auch eine Form von Gewalt, da muss kein Blut fließen, nämlich die Gewalt, jemandem was wegzunehmen. Und die steht ja ganz groß im Raum. Die stellt Marx auch.

Und wenn wir die mit einbeziehen, hat er natürlich einen ganz anderen Gewaltbegriff auch noch dabei. Denn das geht ja nicht friedlich, dass ich sage, und in Russland haben wir gesehen, Millionen sind ins Exil gegangen. Man hat die großen Güter enteignet und Bürger enteignet usw. Das ist ja auch eine Form. Ja, und wenn du dich wehrst, dann kriegst du einen Knüppel auf den Kopf. Also, diese Form von Gewalt kam dann noch dazu. Also, wir haben beide Formen.

Und dann eben dieses Erzwingen von Arbeit ist auch eine Form von Gewalt, die die russische Revolution gemacht hat. Man hat den Bauern einfach gesagt, hier, die ganzen Felder werden zusammengefasst, Kolchosen, wir kennen das, und sie in die Fabriken gezwungen, um – ich würde mal sagen – in 15 Jahren eine Industrialisierung durchzu peitschen, die in England 150 gedauert hat.

Deutschlandfunk Kultur: Sie haben ja Ihrem Buch auch ein schönes Zitat von Willy Brandt vorangestellt: Was immer man aus Marx gemacht hat oder wie immer man ihn interpretiert hat, da muss man jetzt nochmal nachlesen, wie es dann genau hieß. Mit den ursprünglichen Intentionen, ich paraphrasiere das jetzt mal, mit den ursprünglichen Intentionen von Marx hatte das gegebenenfalls relativ wenig zu tun. Und das ist halt eines der Probleme von Ideen, die in der Welt sind, dass sie ein Eigenleben annehmen, das gegebenenfalls mit demjenigen, der sie in die Welt gebracht hat, nichts mehr zu tun hat.

Jürgen Neffe: Das haben wir mit dem Christentum im Grunde genommen auch erlebt.

Deutschlandfunk Kultur: Ja, aber die Frage ist doch tatsächlich: Würden wir Herbert Spencer, den Erfinder des Sozial-Darwinismus, so schnell freisprechen von den Sünden, die in seinem Namen begangen wurden, wie wir das mit Marx machen?

Jürgen Neffe: Also, so schnell spricht den, glaube ich, keiner frei. Wir sind froh, dass wir jetzt hier, wo wir ja praktisch auf der Mauer sitzen, den anderen Marx nochmal sehen können, dass der aus diesem Nebel des Marxismus auftaucht. Wir dürfen ja auch hier nie vergessen, es hieß Marxismus-Leninismus. Ich war gerade jetzt ein paar Tage in Leipzig und habe da auch mit Ostdeutschen schöne Diskussionen gehabt. Das hat ja die Gesellschaft mehr noch durchdrungen, als einem das immer klar war. Das ist ja schon im Kindergarten, in der Schule, jedes Fach wurde marxistisch-leninistisch durchtränkt.

Insofern diesen Marx, Marxismus auch mal wegzuwischen und dann wieder den dann doch Wissenschaftler, Denker, Vordenker zu sehen. Und wenn Sie es aufmerksam gelesen haben, glaube ich ziemlich deutlich zu sagen, dass Marx als Politiker keine so große Leuchte war. Als Politiker würden wir ihn vielleicht auch gar nicht erinnern heute oder als eine der Figuren des 19. Jahrhunderts. Dass wir heute noch über ihn sprechen, hat eher mit seinem Werk zu tun.

Matthias Zimmer: Ich glaube, auch ein bisschen unfair war das, was Sie gerade gemacht haben, ihn mit Spencer zu vergleichen, weil ich schon den Eindruck habe, dass das Grundanliegen von Marx ein emanzipatorisches durchaus gewesen ist, doch sehr davon zu unterscheiden ist von so einem, ich will es mal… , ein beinahe zoologisches Anliegen, wie das bei Spencer dann zum Vorschein gekommen ist.

Ich habe deswegen ja auch das Christentum genannt, weil es eben auch ein emanzipatorische Anliegen hatte, das im Laufe der Geschichte immer wieder verfälscht worden ist und von den Epigonen, die sich das angeeignet haben, in einer Art und Weise interpretiert worden ist, die mit dem ursprünglichen emanzipatorischen Anliegen eigentlich nichts zu tun gehabt hat.

Deutschlandfunk Kultur: Zum Schluss an Sie beide noch zwei Fragen, und zwar erstmal an Sie, Herr Zimmer, als Mann der Praxis, der politischen Praxis:

Taugt Marx als Analysewerkzeug heute für Sozialpolitiker oder generell für Politiker immer noch? Oder ist dieser Werkzeugkasten, den Marx uns da aufbaut, ist der irgendwie noch zu gebrauchen?

Matthias Zimmer: Ich glaube, er ist mit Sicherheit ein anderer geworden. Ich nehme das mit einem gewissen Humor zur Kenntnis, dass diejenigen, die in der Tradition von Marx stehen, diejenigen sind, die ihn eigentlich gar nicht mehr zitieren und sich davon auch weit entfernt haben. Also, wir führen ja dann beispielsweise Debatten über bedingungsloses Grundeinkommen. Und ich sage dann immer: Das hat eher was mit Paul Lafargue zu tun, mit dem Schwiegersohn von Marx, und dem Recht auf Faulheit als mit Marx selbst, der das ja ganz anders gesehen hat.

Ich glaube, wir haben ein bisschen mehr als ein historisches Interesse an Marx, aber ich glaube auch, dass die Instrumente der Gesellschaftsanalyse und der Wirtschaftsanalyse heute weit über Marx hinausgegangen sind, sodass er an der Stelle ein großes historisches Interesse mit sich führt, aber kein praktisches mehr.

Deutschlandfunk Kultur: Herr Neffe, was bleibt für Sie von Marx?

Jürgen Neffe: Für mich bleibt von Marx natürlich doch ein Teil der Methode, Widersprüche zu suchen und in den Widersprüchen Auflösungen. Also, es gibt, und das haben Sie ja schon am Anfang gesagt, es gibt auch nichts Ewiges. Auch der Kapitalismus könnte an sein Ende kommen. Und mich beunruhigt sehr, dass ich nicht weiß, wie das passieren wird und was danach kommt. Marx hat sich ja zumindest die Mühe gegeben, wir könnten ja auch das als Vorbild nehmen: Er ist unvollendet auch in dem Sinne, dass er uns endgültige Antworten ganz sicher nicht gegeben hat. Aber wir könnten das eben auch als Anregung verstehen, so gut zu verstehen, dass wir vielleicht eine gewisse Vorstellung davon haben, was heißt eigentlich Postkapitalismus. Also, das Mason-Buch hat mir da keine Antwort drauf gegeben.

Matthias Zimmer: Mir auch nicht.

Jürgen Neffe: Aber ich habe mit einigen Ökonomen diskutiert darüber. Und die Antworten waren erschreckend. Die sagten immer: Wenn das zusammenbricht: Chaos. Und dann habe ich gedacht: Aha, dann ist aus Rosa Luxemburg: Sozialismus oder Barbarei, jetzt hundert Jahre später Kapitalismus oder Chaos geworden. – Das kann's doch nicht sein.

Deutschlandfunk Kultur: Herr Zimmer, Herr Neffe, vielen Dank für das Gespräch.

Jürgen Neffe: Ich danke Ihnen.

Matthias Zimmer: Dankeschön.

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