Bundestag.de berichtet heute über das Patenschaftsprogramm „Parlamentarier schützen Parlamentarier“. Hier der komplette Beitrag:

Ein stabiler Rechtsstaat, Demokratie und Achtung der Menschenrechte – in vielen Ländern sind diese Errungenschaften nicht selbstverständlich. Deutsche Außenpolitik und speziell der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Deutschen Bundestages setzen sich daher dafür ein, den Menschenrechten, wie sie die Charta der Vereinten Nationen allen Menschen zugesteht, weltweit Geltung zu verschaffen.

Abgeordnete können zudem im Rahmen des Programms „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ (PsP) des Bundestages Patenschaften eingehen. In dem international einzigartigen Programm, das vom Menschenrechtsausschuss betreut wird, unterstützen Bundestagsabgeordnete aller Fraktionen weltweit Personen, die sich für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzen und deswegen staatliche Willkür erleiden.

„Menschenrechte immer stärker unter Druck“

Michael Brand (CDU/CSU), Mitglied im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, engagierte sich schon weit vor Beginn seiner politischen Karriere für die Einhaltung der Menschenrechte.

Er verfolgt auch, wie Rechtsstaat und Menschenrechte in der Türkei immer stärker unter Druck geraten. Seit dem Putschversuch des Militärs 2016 und der Einführung eines „Präsidialsystems à la Erdoğan“ habe sich die Lage dramatisch zugespitzt, so Brand. Die Gewaltenteilung ist abgeschafft, Regimekritiker werden zu Unrecht inhaftiert und erfahren Repression und Polizeigewalt. Solche, die es können, entschließen sich dazu, das Land zu verlassen.

Taner Kılıç kann nicht ausreisen. Die Behörden haben dem Rechtsanwalt aus Izmir und ehemaligen Leiter der türkischen Sektion von Amnesty International (ai) den Reisepass abgenommen. Gegen Kilic und zehn weitere Menschenrechtler wurde in Istanbul ein Verfahren eingeleitet, in dem sie sich „gegen konstruierte Terror-Vorwürfe“ zur Wehr setzen müssen.

„Kein fairer Prozess“

Michael Brand erhebt seit Längerem seine Stimme für ihn und versucht ihm im Rahmen des Parlamentsprogramms zu helfen. Der Fall von Taner Kılıç stehe beispielhaft für die Missachtung der Menschenrechte in der Türkei, erklärt Brand. Kılıç wurde im Juni 2017 mit 22 weiteren Rechtsanwälten und Menschenrechtlern im westtürkischen Izmir unter fadenscheinigen Gründen festgenommen und saß dort 14 Monate, bis Mitte August 2018, zu Unrecht in Untersuchungshaft.

Ihm wird vorgeworfen, mit der angeblich terroristischen Bewegung des Islam-Predigers Fethullah Gülen zu
sympathisieren, die von Erdoğan für den Putschversuch verantwortlich gemacht wird. Damit drohen ihm bis zu 15 Jahre Haft. Für ihre Anklage konnte die Staatsanwaltschaft jedoch keine Beweise vorlegen. Das Ende Oktober begonnene Gerichtsverfahren verspreche „kein fairer Prozess“ zu werden, sagt Türkei-Kenner Brand.

„Ein eigenes Bild von der Lage machen“

Aufmerksam geworden auf Taner Kılıç ist Brand durch Idil Eser, einer Mitstreiterin von Kılıç bei Amnesty International und aktuellen Vorsitzenden der Organisation in der Türkei. Eser, die selbst für einige Monate in Haft kam, setzt sich für die in den Medien als „Istanbul 10“ bekannt gewordene Gruppe 2017/18 in Istanbul inhaftierter Rechtsanwälte und Kılıç ein. Nach Kılıçs Verhaftung im Sommer 2017 hat Michael Brand eine Patenschaft für Taner Kılıç übernommen. Erst kürzlich kam Eser nach Berlin, um sich nach ihrer Freilassung bei Brand für seinen Einsatz zu bedanken, und sich über den Fall Kılıç auszutauschen.

„Man muss sich auf den Weg machen und vor Ort, durch eigene Recherchen und gute Kontakte, den Dingen auf den Grund gehen, statt allein offiziellen Quellen zu vertrauen“, sagt Brand, der Eser bei einer Informationsreise in die Türkei nach dem Militärputsch im Sommer 2016 kennenlernte.

„Möglichkeiten als Parlamentarier nutzen“

„Als sich die Lage dort zuspitzte, bin ich sofort in die Türkei gereist, um mir ein eigenes Bild von der Lage zu machen, Informationen aus erster Hand zu bekommen, Gesprächspartner aufzusuchen, auf die ich mich verlassen kann“, behinderten doch die türkischen Behörden den allgemeinen Informationsfluss, unabhängige Medien und Reisen eigener Bürger. „Von NGOs wie Amnesty, Menschenrechtsanwälten und unabhängigen Journalisten bekomme ich dagegen in Echtzeit zuverlässige Hinweise, wenn sich die Lage in der Türkei oder für einzelne Verfolgte zuspitzt.“

Brand fühlt sich verpflichtet, die besonderen Möglichkeiten als Parlamentarier zu nutzen, um zu helfen. So war er der erste Bundestagsabgeordnete, der das Land unmittelbar nach dem Putschversuch im Sommer 2016 bereiste, war zu einer Zeit dort, als zwischen Deutschland und der Türkei diplomatische Eiszeit herrschte. Mit dem freien Mandat als Abgeordneter und guten Kontakten kann er sich auch über den Handlungsspielraum von Regierungsvertretern und Diplomaten hinaus vor Ort bewegen.

„Türkei keine Demokratie mehr“

Das von Erdoğan und seiner Regierung errichtete Präsidialsystem bedeute „die Abschaffung der Demokratie“, mahnt Brand. Jetzt werde „sogar staatlich zur Normalität erklärt“, Richter, Staatsanwälte, Hochschullehrer und Beamte ohne vorherige Anhörung zu entlassen. „Der Rechtsstaat existiert nicht, das Recht wird mit Füßen getreten.“

„Die Unabhängigkeit der Justiz, wie Präsident Erdoğan es immer behauptet, ist ein Märchen. Die ist zum politischen Kampfinstrument Erdoğans geworden und dient Präsident und Regierung zur Ausschaltung kritischer Stimmen. Leute, die dem Regime nicht passen, werden von offizieller Seite als Terroristen diffamiert“, sagt Michael Brand.

Seit dem gescheiterten Militärputsch wurden in der Türkei laut ai mehr als 120 Journalisten verhaftet, rund 180 Medienunternehmen geschlossen und über 1.000 Journalisten ihre Akkreditierung entzogen. Man gehe davon aus, so Brand, dass seit dem Sommer 2016 mehr als 170.000 Menschen aus dem öffentlichen Dienst entlassen wurden, es weit über 100.000 Verhaftungen gab und bis heute noch immer über 50.000 Menschen in Untersuchungshaft festgehalten werden.

Das Interview ist erschienen auf bundestag.de

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